Vor fast genau einem halben Jahr habe ich mich für den Termin bei Life With angemeldet, nachdem ich aufgrund einer tragischen Geschichte in den Medien darauf gestossen bin. Schon der erste Satz auf der Webseite hat mich angesprochen; „Wenn ein Geschwister stirbt“.
Meine ältere Schwester ist vor etwas über 17 Jahren an Herzversagen gestorben. Von einem Tag auf den anderen war die Tochter, Schwester, Mutter eines 6-jährigen Sohnes nicht mehr da. Das war eine traumatische und einschneidende Erfahrung für uns alle und, obwohl ich noch eine jüngere Schwester habe, fühlte ich mich oft sehr alleine mit dieser Erfahrung. Niemand ist Schuld. Die Umstände haben es einfach nicht zugelassen, dass wir uns gegenseitig hätten helfen können. Wir waren damals alle zu sehr damit beschäftigt zu funktionieren und unseren Pflichten nachzukommen.

Ich habe oft zu hören bekommen, dass dieser Verlust für unsere Eltern und für ihren Sohn ganz schlimm sein muss. Ja, ohne Zweifel, das ist so. Aber auch für uns Geschwister ist es schlimm und auch wir trauern und leiden. Es hat sich für mich oft so angefühlt, als hätte ich als Schwester nicht das gleiche Anrecht auf Trauer wie meine Eltern oder ihr Sohn. Ich bin mit meiner Schwester aufgewachsen, wir haben uns ein Zimmer geteilt, ich wusste alles über sie, sie wusste alles über mich. Sie war von meiner Geburt an an meiner Seite und ein Teil von mir. Warum sollte meine Trauer also weniger intensiv sein?

So bin ich zu Life With gestossen und habe mich spontan angemeldet. Gestern war es dann soweit. Ein bisschen angespannt und nicht mehr so mutig, bin ich in den Zug nach Zürich gestiegen. Beim Ziel angekommen, war ich noch alles andere als motiviert. Ich bin nicht mehr so offen wie früher und meistens meide ich Anlässe mit vielen Menschen, die ich nicht kenne. Jetzt gibt es aber kein Zurück mehr. Wir begeben uns alle in den grossen Seminarraum. Nach der Begrüssung und einem zum Thema sehr passenden Lied, sitzen wir alle sichtlich bewegt da und stellen uns in der Runde vor. Langsam weicht die Anspannung und die Neugier nimmt ihren Platz ein. Wer sind all die Menschen, die hier sind und mit mir ein ähnliches Schicksal teilen?

Dann kommt der schwierige Teil, wo man sein verstorbenes Geschwister vorstellt. Ob durch Suizid, Krankheit oder Unfall… alle in diesem Raum haben einen Bruder oder eine Schwester verloren und der Schmerz ist spürbar. Ich realisiere, ich bin nicht alleine mit meinen Gefühlen. Und es ist egal ob es gestern oder vor vielen Jahren passiert ist. Jedem ist bewusst, dass Zeit zwar Wunden heilt, jedoch Narben zurückbleiben, die in gewissen Situationen schmerzen oder auch wieder aufreissen können. Jede einzelne Geschichte berührt mich zutiefst und ich erkenne Parallelen.

Nach einer kurzen Pause mit Getränken, Snacks und etwas frischer Luft, werden wir in 5-er Gruppen aufgeteilt. Die kleineren Gruppen ermöglichen eine persönlichere Gesprächsführung und fördern das gegenseitige Vertrauen. In diesem Rahmen sind nun sehr intime Fragen und Erzählungen möglich. Bei den meisten ist der Verlust noch nicht lange her. Mir wird bewusst, wie weit ich schon in meinem Trauerprozess bin im Gegensatz zu vielen anderen. Und ich empfinde Mitgefühl weil ich weiss, welchen langen, schmerzhaften Weg sie sehr wahrscheinlich noch vor sich haben. Vor allem die Schicksale der ganz Jungen TeilnehmerInnen, die durch diese Erfahrung viel zu früh erwachsen werden müssen und ihre Jugend an die hohen, emotionalen Anforderungen verlieren, bewegt mich sehr. Ich durfte zumindest 36 Jahre meines Lebens mit meiner Schwester teilen, bevor sie für immer einschlief.

Nach dem Tod meiner Schwester war meine jugendliche Unbeschwertheit auf einen Schlag weg. Ich war plötzlich ein anderer Mensch. Und mit diesem Menschen musste ich mich zuerst wieder anfreunden und vertraut machen.

So tauschen wir uns gegenseitig aus mit Erfahrungen, Erinnerungen, Gefühlen und Aufmunterungen. Die Menschen, die man vor ein paar Stunden erst kennengelernt hat, wirken plötzlich sehr vertraut und man empfindet ein tiefes Verständnis füreinander. Dann ist die Zeit auch schon um und alle treffen sich noch einmal im grossen Raum für einen kurzen Rückblick und die Verabschiedung. Auf dem Tisch liegen viele Fotos. Jeder darf sich eins aussuchen. Das Bild, das ich wähle, ist mir schon in der Pause aufgefallen. Die Stimmung darauf erinnert mich an gemeinsame Ferien mit meiner Schwester. Ein Moment der Erinnerung, den ich für immer in meinem Herzen habe. Einerseits fühle ich mich nun erfüllt und bereichert, andererseits aber auch sehr erschöpft. Ich bin froh, am Abend nichts mehr vorzuhaben und mich in mein Zuhause, in meine geschützten 4 Wände, zurückziehen zu können.

Danke an das Team von Life With für dieses tolle Angebot. Ich habe vor, auch nächstes Mal wieder dabei zu sein. Der erste Schritt ist immer der Schwerste. Ich gebe zu, es hat mich Überwindung gekostet aber schlussendlich war es die Anreise und jede Minute wert

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert