Teilnehmerbericht vom 24. September 2022
Wir kennen es alle: Das Stigma um den Begriff «Selbsthilfegruppe». Lange hat es mich davon abgehalten, selbst Teil einer solchen Gruppe zu werden. Irgendwann dominierte der Wunsch, mich mit jemandem auszutauschen, der mich versteht, wirklich versteht. Doch wo findet man diese Menschen?
Erste Versuche, eine Vereinigung von Gleichgesinnten zu finden, waren ohne Erfolg. Es schien für alle Themen eine Gruppe zu geben doch nicht für trauernde Geschwister. Völlig unerwartet stiess ich in einer Infobox unter einem Zeitungsartikel auf «Life with».
«Here we go again»
Als mein Bruder 2021 verstarb war ich 24 Jahre alt. Es war nicht der erste Todesfall in meiner unmittelbaren Familie und ich war schon «ein alter Hase» in dieser Gefühlswelt, die für viele Gleichaltrige unbekannt oder gar undenkbar ist. Als ich vom Tod meines Bruders erfuhr dachte ich «Here we go again.» Ich dachte, ich wüsste was auf mich zukommt, wüsste wie ich damit umzugehen hätte oder was ich bräuchte. Ich lag falsch. Mir wurde schnell klar, dass die Gefühlswelt eines Erwachsenen viel tiefer und vielfältiger ist, als die eines Kindes. Man versteht mehr und bleibt nicht verschont vor all dem, was erledigt werden muss. Man trägt Verantwortung und muss irgendwie funktionieren und den Schritt zurück ins Leben wagen. Natürlich versuchten alle im Umfeld verständnisvoll zu sein und Rücksicht zu nehmen, aber ich fühlte mich einmal mehr wie eine Ausserirdische.
So fand ich mich an einem regnerischen Samstagnachmittag in einem Stuhlkreis voller Unbekannter verschiedener Altersgruppen. In einer ersten Vorstellungsrunde stellten wir uns alle vor, in einer zweiten Runde unser verstorbenes Geschwister. Den ersten Teil hatte ich erwartet, doch Letzteres kam dann doch irgendwie unerwartet. Mein Bruder, aber auch sein Verlust, begleiten mich täglich. Und doch spreche ich nicht oft über ihn. Nicht, weil ich dies nicht will, aber die Reaktion des Gegenübers hält mich oft davon ab. Das Thema Tod und alles, was es mit sich bringt, ist für viele noch ein Tabuthema. Sie wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen und es ist ihnen unangenehm. Ich erwische mich dabei, wie ich der Frage «Hast du Geschwister? » ausweiche oder nach der Antwort möglichst auf ein anderes Thema lenke, bevor ich nicht darum herumkomme, den Tod meines Geschwisters auszusprechen. Manchmal weil ich selbst nicht darüber sprechen möchte, aber in den meisten Fällen dann doch, weil ich nicht möchte, dass sich mein Gegenüber unwohl fühlt. Überrumpelt von einer bedeutungsschweren Antwort, die sie auf eine solch alltägliche Frage nicht erwartet haben. Also schweige ich und lenke ab, trage die Last alleine und fühle mich dabei ein bisschen, als würde ich für ein Verbrechen bestraft, das ich nicht begangen habe. Auch wenn ich mir mehr als bewusst war, wofür ich hierhergekommen war, überrumpelte mich die Aufforderung tatsächlich über meinen Bruder zu sprechen. Das Unbehagen, das wie immer aufkommt, wenn das Thema auf meine Geschwister zu sprechen kommt, setzte ein. Ich hörte erst den Geschichten der anderen Teilnehmern zu und mir wurde klar: In diesem Raum bin ich nicht die Ausserirdische. In diesem Raum ist es in Ordnung, ja sogar erwünscht, darüber zu sprechen. In diesem Raum ist der Verlust von meinem Bruder nicht das, was mich von allen anderen unterscheidet, es ist das, was mich mit ihnen verbindet. Und so sprach ich über meinen Bruder. Es ist schwer in Worte zu fassen, was ich in diesem Moment fühlte. Schmerz natürlich. Doch da war mehr: Freude darüber, anderen von meinem Bruder erzählen zu können und Erleichterung darüber, in einem geschützten Rahmen endlich frei sprechen zu können.
Du bist nicht alleine.
Später tauschten wir uns in kleineren Gruppen aus. Wir teilten «Tipps und Tricks», gaben einander Ratschläge und lernten dabei neue Wege, um uns im Dschungel der Trauer zurecht zu finden. Wir teilten uns über Erfahrungen aus, die sonst niemand versteht und lachten über unsere gemeinsamen «Eigenheiten». Die Gespräche in dieser Runde, umringt von Menschen, die mich verstehen, gaben mir ein lang ersehntes Gefühl der Zugehörigkeit. Das erste Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, dass meine Erfahrungen nicht einfach nur schmerzhaft sind, sie sind auch für etwas gut. In diesem Rahmen konnte ich meine Trauer endlich für etwas Gutes nutzen und anderen etwas mitgeben, ihnen Hoffnung schenken, Mut machen und das sagen, was ich so oft gerne gehört hätte: Du bist nicht alleine.
Ich hatte erwartet, dass ich nach diesem Treffen traurig sein würde. Vielleicht, weil ich dachte, dass so viele Verluste und deren Auswirkungen auf einem Haufen ein Happy End verunmöglichen würden aber ich wurde eines Besseren belehrt. Als ich den Raum verliess, fühlte ich mich leichter, hoffnungsvoller und stärker.
Austausch mit Gleichgesinnten in einem geschützten Rahmen
«Life with» bietet den Austausch mit Gleichgesinnten in einem geschützten Rahmen. Es gab wichtigen und notwendigen Raum für Trauer, aber die Gespräche wurden nicht von Tod und Verlust dominiert. An diesem Tag gewann ich kurze Einblicke in die Leben von aussergewöhnlichen Persönlichkeiten, die uns viel zu früh verlassen haben. Ich hörte von berührenden Schicksalen, die uns unterscheiden und gleichzeitig verbinden. Doch vor allem lernte ich starke Menschen mit inspirierenden Geschichten kennen, die sich den Weg aus der Dunkelheit und der Kälte in das Leben kämpfen, das sich unsere Gewischter für uns wünschen.
Teilnehmerbericht verfasst von Jasmine
Hallo Ihr Lieben, der Artikel von Dir Jasmin hat mich sehr berührt. Vielen Dank für Deine Gedanken, die Du mit anderen Menschen geteilt hast. Ich bin sicher, dass es vielen Menschen helfen wird, Ihre Trauer zuzulassen und sich mit Ihrem Schmerz auseinander zusetzen. Liebe Grüsse, Mario